Bei der Bemessung des GdB bei Hämophilie ist nicht die Restaktivität des antihämophilen Globulin/Faktor VIII maßgeblich, die unter einer Therapie erreicht werden kann. Ausschlaggebend ist der Wert, mit dem ohne Therapie zu rechnen wäre.


SG Halle (Saale) 24. Kammer
12.06.2023
S 24 SB 35/22
Juris



Leitsatz

Bei der Bemessung des GdB bei Hämophilie ist nicht die Restaktivität des antihämophilen Globulin/Faktor VIII maßgeblich, die unter einer Therapie erreicht werden kann. Ausschlaggebend ist der Wert, mit dem ohne Therapie zu rechnen wäre.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte den Bescheid vom 23.04.1992 aufheben durfte.

Der Beklagte hatte bei dem im Jahr 1986 geborenen Kläger auf den am 13.03.1991 eingegangenen Antrag wegen einer schweren Hämophilie mit Bescheid vom 23.04.1992 einen Grad der Behinderung von 100, sowie die Merkzeichen G, B und H festgestellt.

Auf einen erfolglosen Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zur Bewilligung von Parkerleichterungen im Herbst 2019 stellte der Beklagte fest, dass eine eigentlich für das Jahr 2000 angedachte Nachuntersuchung bisher unterblieben war. Im Februar 2020 leitete der Beklagte sodann ein Verfahren zur Nachuntersuchung ein. Nach Auswertung eingegangener Unterlagen hörte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 19.08.2020 zu beabsichtigten Herabsetzung des GdB von 100 auf 30 für die Zukunft unter gleichzeitiger Entziehung der Merkzeichen G, H und B an.

Der Kläger wies darauf hin, dass die schwere Hämophilie eine Erbkrankheit sei, welche auch durch regelmäßige Substitutionsbehandlung nicht heilbar wäre.

Der Beklagte hob gleichwohl mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 03.03.2021 den Bescheid vom 23.04.1992 auf und stellte mit Wirkung ab dem 01.04.2021 einen GdB von 30 fest. Ebenfalls mit Wirkung ab dem 01.04.2021 wurden die Merkzeichen G, B und H nicht mehr festgestellt.

Den hiergegen eingelegten und am 15.03.2021 beim Beklagten eingegangenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.01.2022 zurück.

Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass eine wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse eingetreten sei, da unter entsprechender Therapie eine Stabilisierung der Grunderkrankung (Hämophilie) eingetreten wäre. Auch seien keine neuen Blutungskomplikationen angegeben worden.

Mit der am 03.02.2022 beim Sozialgericht Halle eingegangenen Klage vom selben Tag verfolgt der Kläger sein Begehren nach Beibehaltung der Regelungen im Bescheid vom 23.04.1992 weiter. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass es sich um eine genetisch bedingte Krankheit handele, die nicht heilbar wäre. Die Restaktivität des sogenannten Faktors VIII (Terminus in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen: Antihämophiles Globulin) läge grundsätzlich bei unter einem Prozent. Der Wert sei lediglich mit einer Substitution des fehlenden Faktors VIII zu erhöhen. Zudem lägen auch Auswirkungen einer hämophilen Arthropathie im rechten Sprunggelenk vor.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 03.03.2021 und den Widerspruchsbescheid vom 21.01.2022 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verweist auf die Wirkung der Substitutionstherapie und hält die Faktor VIII -Restaktivität unter deren Einwirkung für maßgeblich.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten ergänzend verwiesen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Das Gericht hat Befundberichte eingeholt, namentlich von der behandelnden Orthopädin, dem Hausarzt des Klägers und der behandelnden Ärztin im Zentrum für Blutgerinnungsstörungen. Auf den Inhalt der Befundberichte wird verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, insbesondere als Anfechtungsklage statthaft.

Mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides erreicht der Kläger sein Ziel, den Bescheid vom 23.04.1992 und damit sämtliche dort getroffene Regelungen aufrechtzuerhalten.

Die Klage ist auch begründet, da der Beklagte nicht berechtigt war, den Bescheid vom 23.04.1992 aufzuheben und über den Grad der Behinderung neu zu entscheiden, weshalb der Bescheid einen Rechtsfehler zum Nachteil des Klägers aufweist und diesen damit in seinen Rechten verletzt.

Gemäß § 152 SGB IX (früher: § 69 SGB IX) i.V.m. § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Bescheid aufzuheben und eine neue Feststellung zu treffen, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Bescheides mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Gemäß § 152 Absatz 1 Satz 1 SGB IX (früher: § 69 Absatz 1 Satz 1 SGB IX) setzt die Versorgungsverwaltung den GdB auf Antrag eines behinderten Menschen fest. Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und damit ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Absatz 1 SGB IX).

Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 6 SGB IX (früher § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX) ist eine Feststellung nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt.

Die Festsetzung des GdB ist im Wesentlichen ein Akt der Bewertung. Die rechtliche Bewertung von Tatsachen erfasst solche auf beruflichem, privatem, medizinischem und gesellschaftlichem Gebiet.

Bei der Bewertung ist die Versorgungsmedizinverordnung heranzuziehen, welche ihrerseits im § 2 auf die Versorgungsmedizinischen Grundsätze verweist, welche als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen sind.

Unter Beachtung der genannten Grundsätze gelangt das Gericht zu folgenden Feststellungen:

Die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Bescheides vom 23.04.1992 lagen nicht vor.

Der Beklagte hat dabei seine Entscheidung formal zutreffend auf § 48 SGB X gestützt. In der Annahme, es sei eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zum Nachteil des Klägers eingetreten, eröffnet § 48 Abs. 1 SGB X die Möglichkeit, den betreffenden Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.

Die erforderliche Anhörung führte der Beklagte mit Schreiben vom 19.08.2020 durch.

Tatsächlich ist aber eine entsprechende Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die beim Erlass des Bescheides vom 23.04.1992, einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, vorlagen, nicht eingetreten.

Beim Kläger liegt nach den Angaben der behandelnden Ärztin eine ausgeprägte schwere Hämophilie A vor, welche eine Restaktivität des Faktors VIII von weniger als einem Prozent bedingt. Eine Heilung ist nicht möglich, es könne lediglich der Spiegel mit der Gabe eines Faktorenkonzentrats soweit angehoben werden, dass Blutungen vermieden werden.

Der Kläger erhält zu diesem Zweck eine Substitution mit einem mittels Namens ReFacto, welches ihm regelmäßig alle 2 Tage injiziert wird. Der Gerinnungsfaktor VIII wird damit zunächst auf einen Wert von über 40 Prozent angehoben, der im Lauf des Folgetages absinkt. Ein Absinken auf einen Wert von unter 5 Prozent ist bei der beschriebenen Therapieintensität nicht zu erwarten.

Diese Feststellungen, an denen weder das Gericht noch die Beteiligten Anlass zu Zweifeln haben, rechtfertigen nicht die Annahme, dass sich der Zustand des Klägers seit seiner Kindheit, also den Zeitpunkt des Erlasses des durch den Beklagten aufgehobenen Bescheides, wesentlich gebessert hat.

Abweichend von der Annahme des Beklagten, bzw. dessen versorgungsärztlichen Dienstes, ist nicht der Wert des Faktors VIII unter Therapie maßgeblich, sondern vielmehr der Wert, der ohne Therapie vorläge.

Bei der Prüfung dieser Frage ist auch dem Gericht bewusst, dass sich obergerichtliche oder sogar höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Problematik nicht findet.

Auch die zur Verfügung stehenden Kommentare, namentlich der Kommentar, herausgegeben von Ulrich Wendler und Martin Schillings, 10. Aufl. 2020 und der Kommentar von Petra Nieder, Eberhard Losch und Klaus-Dieter Thomann, 2012, geben wenig Aufschluss.

Im Kommentar von Nieder und anderen wird zu Teil B Ziff. 16.10 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) angemerkt, dass sich die GdB-Höhe (…) an der Restaktivität des betroffenen Gerinnungsfaktors (ohne Therapie!) und davon abhängig von der Blutungsneigung im Alltag orientiert.

Der Kommentar von Wendler und anderen vermerkt bei Teil A Ziff. 5 d oo) VMG, dass der Sachverständigenbeirat zu der Frage, ob sich die Angaben zur Restaktivität von Antihämophilem Globulin (Faktor VIII) auf Werte mit oder ohne Substitution beziehen, zunächst darauf hingewiesen hätte, dass es bisher eine optimale Therapie nicht gebe. Die Restaktivität an antihämophilem Globulin sei Ausdruck der Schwere des genetisch nicht einheitlichen Krankheitsbildes „Hämophilie“ und beziehe sich auf Werte ohne Therapie.

Die Kammer hat keine Erkenntnisse zu neueren medizinischen Ergebnissen, die den Rückschluss zulassen, dass die Therapiemöglichkeiten inzwischen optimiert seien.

Schon aus diesem Grund sind die Ausführungen in den Kommentaren beachtlich.

Auch die Formulierungen in der maßgeblichen Ziff. 16.10 VMG sprechen dafür, die Werte ohne Therapie für maßgeblich zu erachten.

So findet sich bei anderen Behinderungen eine deutliche Unterscheidung zwischen behandelter und unbehandelter Erkrankung, insbesondere bei möglichen Nebenwirkungen von Medikamenten. Beispielhaft sei hier Diabetes erwähnt, wonach die Möglichkeit, durch Insulingabe eine schwere Unterzuckerung auszulösen, maßgeblich für die Erhöhung des GdB ist (Ziff. 15.1 VMG).

Beachtlich ist auch die Unterscheidung bei der Schlafapnoe in Behandlungsbedürftigkeit durch eine kontinuierliche nasale Überdruckbeatmung (GdB 20) und den Fällen, in denen eine entsprechende Behandlung zwar notwendig, aber nicht durchführbar ist. In letzterem Fall wird sofort die Schwerbehinderung mit einem GdB von 50 erreicht (Ziff. 8.7 VMG).

Die letztere Konstellation hat für die Kammer bei der Auslegung der hier streitigen Frage insoweit eine besondere Bedeutung, als die Diskrepanz zwischen behandelter und unbehandelter Erkrankung deutlich wird. Im Fall der Hämophilie stellt sich doch die Frage, in welchen Fällen eigentlich noch ein GdB von 80-100 angemessen wäre, also eine Restaktivität des Faktors VIII von weniger als einem Prozent trotz Behandlung vorläge. Man müsste doch davon ausgehen, dass es sich hier nur um extrem seltene Fälle handeln könnte, bei denen praktisch keinerlei Therapieoptionen bestünden. Hier wäre analog zu den Bestimmungen zur Schlafapnoe eine Klarstellung geboten und deshalb zu erwarten.

Auch der reine Wortlaut in Ziff. 16.10 VMG spricht unter Berücksichtigung der bekannten – und hier auch unstreitigen – medizinischen Umstände gegen die Auffassung des Versorgungsärztlichen Dienstes des Beklagten.

Die Ursache der Hämophilie ist genetisch bedingt, weshalb die Krankheit als solche unheilbar ist.

Die Folgefrage, warum eine Behandlung, die nur die Symptome bekämpft, aber nicht die Krankheit als solche heilt, dazu führen soll, dass die Krankheit als solche nunmehr nicht mehr den Schweregrad aufweist, den sie eigentlich, d. h. von ihrem Ursprung an, hat, müsste deshalb in den VMG beantwortet werden. Immerhin enthält die gleiche Ziffer der VMG durchaus eine differenzierte Regelung bei (ähnlichen) Erkrankungen, die heilbar oder zumindest linderbar sind. Am Ende der Ziff. 16.10 der VMG findet sich die Bestimmung, dass bei Grundkrankheiten, die nicht mehr bestehen bzw. keinen GdS mehr bedingen würden, im Falle einer notwendigen Weiterbehandlung mit Antikoagulantien in der Regel ein GdS von 10 anzunehmen wäre.

Die Kammer schlussfolgert daraus, dass im Sinne der VMG eine schwere Hämophilie auch dann als schwere Hämophilie zu bewerten ist, wenn die Substitutionstherapie dazu führt, dass die schweren und gegebenenfalls auch lebensbedrohlichen Blutungen unterbleiben.

Nach Auffassung der Kammer war und ist deshalb ein GdB angemessen, der der schweren Form, also mit weniger als ein Prozent AHG bzw. Faktor VIII, entspricht.

Beim Kläger liegt zudem eine hämophile Arthropathie vor, die nach den orthopädischen Befunden mindestens einen Einzel-GdB von 20 bedingen würde.

Die Feststellung eines Gesamtgrades der Behinderung von 100 bei einem Einzelgrad der Behinderung von 80-100 alleine für die Hämophilie ist deshalb nach wie vor angemessen. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist deshalb nicht festzustellen.

Der Klage war somit stattzugeben, da der rechtswidrige Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.